Über
Verschwörungserzählungen

Mit der Corona-Pandemie haben sogenannte Verschwörungserzählungen zunehmend öffentlich Aufmerksamkeit bekommen. Doch auch wenn es so scheint: Sie sind weder ein neues Phänomen noch hat die Zahl der Verschwörungsgläubigen seit Beginn der Pandemie wesentlich zugenommen. Verschwörungsglaube wird aber in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs vermehrt dort sichtbar, wo er vorher unter Umständen unbemerkt geblieben ist. Auch ein Blick in die Geschichte zeigt: Verschwörungstheoretische Erklärungen haben eine lange Tradition.
Belastung für das Umfeld
Verschwörungserzählungen beziehen sich auf eine Bandbreite an Themen und sprechen daher Personen aus verschiedenen sozialen und politischen Milieus an. Repräsentativen Studien zufolge glauben in Deutschland zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung in unterschiedlicher Art und Ausprägung an Verschwörungserzählungen.
Besonders im privaten Umfeld kann die Auseinandersetzung mit Verschwörungsglauben eine große Belastung darstellen und tiefe Gräben in familiäre und persönliche Beziehungen reißen. Häufig drehen sich Gespräche nur noch um die Verschwörungserzählungen und damit einhergehende Missionierungsversuche durch die verschwörungsgläubige Person. Dazu kommt die Sorge um die verschwörungsgläubige Person selbst, die – gerade im Fall von persönlichen Krisen – unter enormem psychischem Stress steht.
Da sich Verschwörungserzählungen als anschlussfähig an menschenfeindliches Gedankengut erweisen und zur Legitimationsgrundlage für Gewalt werden können, gefährden sie in radikalisierter Form außerdem den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie.
Erklärung für gesellschaftliche Veränderungen
Doch was meinen wir eigentlich genau, wenn wir von „Verschwörungserzählungen“ sprechen? Dem Amerikanisten Prof. Dr. Michael Butter zufolge kennzeichnet Verschwörungserzählungen, „dass eine im Geheimen operierende Gruppe, nämlich die Verschwörer, aus niederen Beweggründen versucht, eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu kontrollieren oder zu zerstören.“ Neben diesem Glauben sind für den Wissenschaftler drei weitere Grundannahmen charakteristisch für Verschwörungserzählungen: Nichts geschieht durch Zufall. Nichts ist, wie es scheint. Alles ist miteinander verbunden.
Verschwörungserzählungen bieten also ein Deutungsmuster, in das sich fast alle gesellschaftlichen Entwicklungen einordnen lassen. Komplexe und abstrakte Sachverhalte können so stets auf das böswillige Handeln übermächtiger Eliten zurückgeführt und damit personalisiert werden. Mit Hilfe der Frage „Cui bono?“ – „Wer profitiert davon?“ – schließen Verschwörungsgläubige dabei auf die vermeintlichen Verschwörer*innen: Wer tatsächlich oder vermeintlich von einem Ereignis profitiert, so die Annahme, muss dafür verantwortlich sein. Den Verschwörer*innen wird zudem zugetraut, dabei weite Teile der Öffentlichkeit zu täuschen.
Im Gegensatz zu realen Verschwörungen, die in der Vergangenheit durch faktenbasierte Recherchen oder Whistleblowing aufgedeckt werden konnten, fehlt Verschwörungserzählungen aber eine faktische Grundlage. Insofern unterscheidet sich der irrationale Verschwörungsglaube auch von einer kritischen Haltung gegenüber Autoritäten und medialer Berichterstattung, die in einer demokratischen Gesellschaft von großem Wert ist.
Verschwörungserzählungen erfüllen Bedürfnisse
Der Glaube an Verschwörungserzählungen hat dabei nichts mit der Intelligenz oder der psychischen Verfasstheit einer Person zu tun. Verschwörungsgläubige sind weder „dumm“ noch psychisch krank. Verschwörungserzählungen können aber Bedürfnisse erfüllen, die wohl viele Menschen haben. Pia Lamberty und Katharina Nocun unterscheiden drei solcher Bedürfnisse:
- Existenzielle Bedürfnisse: das Streben nach Kontrolle und Sicherheit.
- Epistemische Bedürfnisse: der Wunsch, die Welt um sich herum zu verstehen.
- Soziale Bedürfnisse: das Streben danach, von anderen positiv wahrgenommen zu werden.
Auch in unserer Beratungsarbeit sehen wir regelmäßig, dass sich die Hinwendung zu Verschwörungserzählungen häufig auf konkrete Krisen- und Ohnmachtserfahrungen oder einen erlebten persönlichen oder politischen Kontrollverlust zurückführen lässt. Denn die Wahrnehmung individueller Machtlosigkeit kann durch den Glauben an Verschwörungen kompensiert und so das Gefühl von Kontrolle zurückerlangt werden.
Anschlussfähig für menschenfeindliche Einstellungen
Obwohl dem Glauben an Verschwörungserzählungen daher häufig psychologische Motive zugrunde liegen, bieten sie auch eine große Anschlussfähigkeit an menschenfeindliche Ideologien. Besonders häufig greifen sie antisemitische Stereotype auf.

Zwar ist nicht jede Verschwörungserzählung antisemitisch und bei weitem nicht jede*r Anhänger*in einer Verschwörungserzählung Antisemit*in, Rechtsextremist*in oder potentiell gewalttätig. Doch weil Verschwörungserzählungen Verantwortliche und Schuldige ausmachen und benennen wollen, tauchen typisch antisemitische Motive, wie etwa des „Strippenziehers“, schnell auf. Das personalisierte Feindbild wird dann mit Juden, Jüdinnen oder mit als jüdisch imaginierten Personen besetzt. Der zunächst harmlos erscheinende Glaube kann sich dann zu einem geschlossenen Weltbild verdichten, in dem alle gesellschaftlichen Ereignisse einer angeblich „jüdischen Weltverschwörung“ folgen.
Potenzial für Radikalisierung und Gewalt
Der Glaube an Verschwörungserzählungen besitzt ein großes Radikalisierungspotenzial und kann so nicht nur zu einer Belastung für das Umfeld werden, sondern auch zu einer Gefahr für andere und letztlich sogar für die verschwörungsgläubigen Personen selbst. In der Arbeit der Beratungsstelle veritas zeigt sich immer wieder, dass es deshalb wichtig ist, einerseits die vom Verschwörungsglauben ausgehenden Gefahren ernst zu nehmen, aber auch die persönlichen Belastungen, die damit einhergehen, nachzuvollziehen. Nur so können wir dem Phänomen adäquat begegnen sowie das persönliche und familiäre Umfeld von Verschwörungsgläubigen im Umgang damit unterstützen.
Quellen & Literaturhinweise
Michael Butter (2018): „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien. Edition Suhrkamp.
Roland Imhoff/ Pia Lamberty (2017): Too special to be Duped: Need for Uniqueness Motivates Conspiracy, in: European Journal of Social Psychology 47, 2017, Nr. 6, S. 724-734.
Nocun, Katharina/ Lamberty, Pia (2021): True Facts: Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft. Quadriga.
Skudlarek, Jan (2019): Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Reclam.